Hans-Peter und die Trauer braucht Zeit

Mit der Veröffentlichung des Beitrages „Hans-Peter und die Trauer braucht Zeit“ als Folge 6 der Reihe unserer geschätzten Kollegin Nicole Kubenka von der Friedhofsverwaltung der Stadt Sassnitz möchten wir als Bestattungsinstitut Gotha dazu beitragen, die auf nette Art dargestellten Alltagsprobleme auf den Friedhöfen unseres Landes in die Gegenwart zurückzuholen und zum Nachdenken anzuregen. Erneut ein angenehmes Lesen wünscht Ronald Häring, Geschäftsführer.

Hans-Peter und Trauer braucht Zeit

Es ist ein kalter, aber sonniger Freitag im April, als ich mich nach einer kirchlichen Trauerfeier und Urnenbeisetzung von der Familie verabschiede.

Hans-Peter sitzt still in der großen Birke neben der Trauerhalle und beobachtet aufmerksam das Geschehen. Er hat sein kleines rotes Notizbuch unter einen Flügel geklemmt. Sein Gefieder ist nun wieder voller und glänzt in der Vormittagssonne. Seine wachen Augen verfolgen jeden Schritt, jede Bewegung.
Ich muss schmunzeln und mir wird warm ums Herz.
Kleiner treuer Freund mit großem Kämpferherz.

Hans-Peter ist so vertieft in seine Beobachtungen, dass er nicht merkt das ich den Standort gewechselt habe und nun ihn beobachte. Als er registriert, dass ich nicht mehr da bin, wo ich vor wenigen Minuten noch war, entfährt ihm ein kleiner aufgeregter Krächzer. Nervös tippelt er auf dem Birkenast umher. Mein Lachen verrät mich. Hans-Peter kommt aufgeregt angeflattert.
„Nicht lustig Nicole, gar nicht lustig“, kommentiert er und lässt sich geschmeidig vor mir auf der Wiese nieder. „Ooochhh, warum nicht?, frage ich mit einer Mischung aus Lachen und der richtigen Portion gespielter Verwunderung.

„Nicole?“, übergeht er meine Frage. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht.
„Hans-Peter.“, spiele ich brav mit. „Was hast Du auf Deinem kleinen geduldigen Herzen?“

Er hat sich zu mir unter die Kiefer gesetzt. „Heute war etwas anders“, legt er sofort los und springt wieder auf. Ich bin erfreut überrascht. „Ja, das stimmt. Du bist ein guter Beobachter.“, lobe ich. Hans-Peter strahlt und wächst gefühlt um einen Meter. „Die Familie hat die vielen Blumen selbst zur Grabstelle getragen und abgelegt. Sie waren sogar beim Schließen des Grabes dabei. Das habe ich heute zum ersten Mal gesehen. Was mich aber am meisten erstaunt hat, war, dass sie nicht die ganze Zeit nur geweint haben, sondern teilweise auch etwas lachen konnten. Warum ist das so?
Waren die Menschen denn nicht so verbunden mit der Verstorbenen? Sind sie denn nicht so traurig wie andere Angehörige?“ Während er eine Frage nach der anderen stellt, läuft er vor mir aufgeregt auf und ab. Ich folge seinen Schritten. Nun steht er direkt vor mir und schaut mich erwartungsvoll aus seinen großen wachen Augen an.

„WOW.“, denke ich, aufmerksames kleines Kerlchen. Wir sind auch nicht mehr allein. In den Bäumen um uns sitzen inzwischen weitere „alte“ Bewohner des Friedhofes, aber auch einige Neuankömmlinge wie die Dompfaff-Familie (Gimpel oder Blutfink), das Blaumeisen-Pärchen und die beiden Buntspecht-Familien haben im Geäst Platz genommen. „Welch einzigartig buntes Publikum“, denke ich. NaturOase Friedhof.

„Was ist eigentlich diese Trauer und was macht sie??“, platzt es aus einer Elster heraus, als ich gerade zum Erzählen ansetzen möchte. Hans-Peter bedenkt sie mit einem mahnenden Blick, während ich über die Neugierde anerkennend schmunzeln muss.

Wenn ein Mensch stirbt, hinterlässt er eine Lücke im Leben der Angehörigen. Eine Lücke die sich nie wieder schließen lässt. Egal in welcher Beziehung wir zu diesem Menschen standen.
Das ist schmerzhaft.
Wir werden nie wieder mit diesem Menschen sprechen, streiten, lieben und lachen können. Uns wird bewusst, dass ein letztes „Tschüss, bis bald.“ ein Abschied für immer ist. Ein erster Kuss gleichzeitig der Letzte war. Eine (WhatsApp)Nachricht nicht mehr gelesen wird. Was bleibt sind Fragen, die nie beantwortet werden.

Trauer tut weh.

Trauer lässt unsere Welt kopfstehen und ist gleichsam bodenlos. Was gestern noch wichtig war, ist heute unbedeutend. Geräusche, Klänge und Stimmen sind gedämpft. Farben verblassen. Die Welt dreht sich weiter – aber gleichsam steht die Zeit still.

Trauer ist individuell, so wie jeder Mensch individuell ist. Jeder Mensch trauert anders. Die einen weinen, andere nicht. Ein Teil braucht den regelmäßigen Besuch des Grabes, der andere Teil nicht – oder noch nicht.
Trauer braucht Zeit. Es gibt keine zeitliche Begrenzung oder Richtlinie wie lange man traurig sein darf.
Die Zeit heilt diese Wunde nicht und vermag auch diese Lücke nicht zu verschließen. Die Zeit ist geduldig und hilft uns dabei, mit dem Verlust zu leben. Wir werden gute Zeiten haben, wir werden wieder lachen können. Die Welt wird wieder bunter und lauter. Wir werden dazwischen aber immer wieder schlechte Zeiten erleben. Die Welt wird wieder leiser und farbloser. Wir weinen viel, sind vielleicht auch wütend und verzweifelt. Das darf sein.
Das ist Trauer. Trauern heißt aber auch, sich an das Gute und Glückliche zu erinnern, was wir mit dem Menschen erleben und teilen durften. Erinnerungen pflegen, auch wenn es schmerzhaft ist.

 Trauer ist Arbeit. Erlaubt ist, was einem hilft die Trauer zu bewältigen. Es gibt kein richtig oder falsch. Erlaubt ist was einem gut tut.

„So wie die Familie heute???“, fragen Hans-Peter und die Elster aus einem Schnabel.

„Ganz genau.“, sage ich lächelnd. „Sie haben gemeinsam beschlossen, dass es ihnen hilft, sich aktiv der Trauer zu stellen, indem sie gemeinsam die Blumengestecke zur Grabstelle getragen haben. Es wurde angeregt geplaudert und liebevoll „diskutiert“, wie man die Blumen am besten arrangiert. Erinnerungen und gemeinsame Erlebnisse wurden ausgetauscht. Es wurde geweint, aber auch gelacht. Denn auch das ist Trauer.

Trauer braucht Raum.
Trauer braucht FreiRaum.

Trauer braucht einen Ort.“, schließe ich. Es ist still um uns. Hier und da steht ein Schnäbelchen offen. Tränchen kullern. „Eure MenschenTrauer unterscheidet sich ein wenig von unserer Trauer“, sagt das Dompfaffmänchen leise. Ich sehe ihn aufmerksam an. Alle Köpfchen blicken zu ihm hoch. „Was ist denn der Unterschied?“ frage ich gespannt.

„Ihr habt Friedhöfe und eine Trauerkultur“, sagt er mit festem Stimmchen.

Jetzt bin ich es, die strahlt. „Ein Friedhof ist nicht nur eine Begräbnisstätte oder ein Ort zum Trauern. Ein Friedhof ist ein Ort der Begegnung, ein Ort des Gedenkens, ein Ort der Ruhe, ein Ort zum Verweilen.
Ein Friedhof ist vor allem auch das Gedächtnis einer Stadt, einer Gemeinde.

Ein Friedhof ist das Geschichtsbuch unserer Kultur, ein Ort unseres Erbes.“

Die Friedhofskultur in Deutschland ist Immaterielles Kulturerbe. Auf Empfehlung der Deutschen UNESCO-Kommission hat im März 2020 die Kultusministerkonferenz die Aufnahme in das Bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes beschlossen.

(Quelle: kulturerbe-friedhof.de)

Das alles und noch viel mehr ist ein Friedhof.

Nicole Kubenka

Friedhofsverwaltung und
Botschafterin Immaterielles Erbe Friedhofskultur

Hans-Peter und die Trauer braucht Zeit

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